Ein halbes Leben lang...

Kuro

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06. März 2017
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Ein halbes Leben lang glaubte ich, diesen Menschen zu kennen. Sie war damals 12, ich 13 Jahre alt. Ich lebte zu jener Zeit noch bei meinen Eltern in Deutschland. Wir lernten uns übers Chatten kennen und verliebten uns in die Worte des anderen, bevor wir wussten, wie der andere aussah. Es war eine kindliche erste Liebe und sie hielt nicht allzu lange. Wir begegneten einander zwei Jahre später in einem anderen Chat - als hätte es das Schicksal so gewollt - und verliebten uns abermals ineinander. An ihrem 15. Geburtstag kam sie mich mit ihren Eltern besuchen und dort sahen wir einander zum ersten Mal wirklich. Ab diesem Zeitpunkt versuchten wir einander abwechselnd in den Ferien zu sehen. Es war eine Fernbeziehung, aber es funktionierte bestens. Zwei Jahre lang zumindest.

Dann trennten wir uns wieder, sahen einander für zwei Jahre nicht mehr und dann - wie aus heiterem Himmel - war sie wieder in meinem Leben. Wir schrieben zuerst nur E-Mails und die Liebe entflammte erneut. Jetzt sollte uns wirklich nichts mehr trennen. Mit 20 Jahren, ich hatte gerade meine KV-Lehre abgeschlossen, waren wir uns einig, ohne den anderen nicht mehr leben zu wollen. So verliess ich mein Elternhaus, liess meine Freunde und alles, was ich kannte, zurück und zog in die Schweiz. Die Beziehung hielt sieben Jahre lang. Wir gingen durch Höhen und Tiefen, gemeinsam, und schmiedeten bereits Zukunftspläne.

Als mich Ende 2014 ein BurnOut ereilte, welches in eine mittelschwere Depression gipfelte. Ich konnte oder wollte mich nicht mehr am Haushalt beteiligen, fand keine Arbeit und hing in unserer gemeinsamen Wohnung herum. Meine damalige Therapeutin schickte mich in eine Tagesklinik. Dort fasste ich den Entschluss, dass es so mit uns beiden nicht weitergehen konnte. Wir suchten Abstand voneinander. Im Herbst schliesslich fragte sie mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie mit meinem besten Freund schlafen würde, der damals in Berlin lebte. Ich weiss bis heute nicht, ob es an den Medikamenten lag, der Krankheit oder an allem zusammen. Ich konnte nichts mehr fühlen, keine Liebe, keine Freude. So antwortete ich auf ihre Frage, sie seien beide erwachsen und müssten selbst wissen, was sie täten. Sie fuhr zu ihm und...

Als sie zurückkam, war sie fest überzeugt, dass ich ausziehen müsse, am besten schon vorgestern. Ich schrieb meinem Freund und er antwortete, ich müsse mich nicht wundern, dass alles so gekommen sei. Es sei alles meine Schuld. Ich habe bis heute nie wieder von ihm gehört. Ich hatte keine Arbeit, war noch in der Klinik und stemmte dennoch irgendwie innerhalb von zwei Wochen einen Umzug. Wir sahen einander nicht mehr wirklich oft und ich erfuhr, dass sie schnell wieder einen neuen Freund hatte. Erst ein halbes Jahr später ereilten mich die Konsequenzen in Form eines Nervenzusammenbruchs. Ich musste wieder in die Klinik. Die Ärzte sagten mir, dass es bis zu vier oder fünf Jahren dauern könnte, bis ich das Erlebte ausreichend verarbeitet haben würde.

Ich habe noch immer keine Arbeit. Ich bin oft depressiv und denke viel über die Zeit vor unserer Trennung nach. Die Beziehungen, die ich seither hatte, hielten nicht lange. Manchmal denke ich, dass ich die grosse Liebe, wie man sie nur einmal im Leben trifft, bereits gefunden hatte. Dass ich stärker hätte sein müssen. Aber um ehrlich zu sein, weiss ich nicht, was hätte sein müssen oder nicht.

Manchmal weiss ich gar nichts mehr. 

 
Du kannst jeden fragen. Alle werden dir bestätigen, dass L. ein Frauenheld ist. Er soll einmal eine Affäre mit vier Frauen gleichzeitig gehabt haben, ohne dass diese von einander wussten. Die Sache ist die... Du kannst es ihm einfach nicht übel nehmen. Er bringt dich zum Lachen, schleppt dich auf die seltsamsten Partys und... er bringt Leute zusammen. L. hat Charisma. Du kannst dich ihm nicht entziehen. 

Unsere Wege kreuzten sich das erste Mal im Spätherbst 2007. Verdammt, ist das wirklich schon so lange her? Ich hatte soeben eine Trennung hinter mir und arbeitete als Praktikant in einem Archiv der städtischen Universität. Der Name des Lehrstuhls will mir gerade nicht einfallen, ein ziemlich staubiges Fach, in dem nicht viel los war. Auf einer Social Media Plattform, bei der auch einige meiner ehemaligen Schulkollegen angemeldet waren, traf ich ihn wie zufällig. Er wäre mir vielleicht gar nicht länger im Gedächtnis geblieben, wenn er mich nicht angeschrieben hätte. Ob ich nicht Lust hätte, am Freitag mal zum Alexanderplatz nach Berlin zu kommen. Da würde er sich immer wieder mal mit einigen Kollegen treffen. Ja, vielleicht. Er sei leicht zu erkennen, Nietenarmbänder, schwarzes Haar, Mantel. Der Witz ging auf seine Kosten, denn zu jener Zeit trafen freitags gefühlte 75 Prozent der anwesenden Männer am Alexanderplatz auf diese Beschreibung zu. Zuerst konnte ich ihn nicht finden und wäre vielleicht schon wieder nachhause gefahren, wenn T. mit seiner bewundernswerten Extrovertiertheit mich nicht mehrmals über den halben Platz geschleift hätte auf der Suche nach diesem ominösen Kerl. Wir fanden ihn dann doch noch, ich hängte mich für den Rest des Abends an seine Versen und hatte innerhalb kurzer Zeit so um die 20 neue Freunde.

L. vertraute mir, wie er einmal sagte, vom ersten Augenblick an. Unsere Begegnung hatte etwas Magisches. Er brachte mich sogar mit einem Mädchen zusammen, das schon an diesem ersten Tag auf dem Platz ein Auge auf mich geworfen hatte. Unter der Woche verbrachte ich viele schöne Abende mit L. Wir schauten fern, seine Mutter kochte für uns, wir gingen mit den anderen etwas trinken, feierten Weihnachten und Sylvester. Ich mochte seine Mutter sehr und ich glaube, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Bald waren wir uns einig - wir mussten so etwas wie Brüder im Geiste sein. Wir sahen uns sogar ein wenig ähnlich, teilten den selben verrückten Sinn für Humor...

L. hatte immer eine Seite, die er vor den anderen verbarg. Er machte sich tatsächlich viele Gedanken und Sorgen um seine Freunde und Familie. Er liess es sich einfach nicht oft anmerken. So konnten wir zusammen auch philosophische Gespräche führen. Als ich ihm von meinen Plänen erzählte, für und zu A. in die Schweiz zu ziehen, war er davon überzeugt, dass ich es nicht durchziehen würde. Solange ich nicht im Land war, hatten wir nicht mehr so viel Kontakt zueinander, aber wenn ich auf Familienbesuch in die alte Heimat zurückkehrte, war es oft, als wäre ich nie weggewesen. Als Ende 2014 die Sache mit dem BurnOut anfing, fehlte mir die Kraft, den Kontakt zu meinen alten Freunden aufrecht zu erhalten. Das schloss auch ihn mit ein. Wenn er anrief, übergab ich A. das Telefon und meldete mich nur hin und wieder zu Wort. Irgendwann - ich bin mir nicht völlig sicher, aber wie könnte es anders sein? - wurde er zornig ob meines abweisenden Verhaltens. Ich habe mit ihm nie direkt über die Depression gesprochen. Vielleicht konnte er es auch einfach nicht verstehen. Jedenfalls begannen A. und er dann irgendwann, häufiger über Whatsapp zu schreiben. Am Anfang war das völlig in Ordnung. So konnte ich wenigstens erfahren, wie es ihm ging und was er so trieb. Wir waren doch Brüder.

Doch aus den harmlosen Schreibereien muss irgendwann ein Flirt geworden sein. Dann kam der Tag, an dem A. mich fragte und... L. schrieb mir damals noch, wie verrückt das alles sei, dass es ihm leid täte und alles... Ich nahm es locker, erreichte es mich zu jenem Zeitpunkt emotional ja noch nicht. Natürlich sprachen sie während ihres Aufenthalts bei ihm auch über unsere Probleme. Er erfuhr ihre Seite der Geschichte. Und als sie zurückkehrte, stellte er mich als den Sündenbock hin. Dass ich mich nicht wundern müsse, dass alles so gekommen ist.

Meine letzten Worte an ihn waren: "Dann weiss ich ja nun, woran ich bei dir bin."

Später erfuhr ich, dass er die Geschichte so drehte, dass ich ihm aus heiterem Himmel die Freundschaft gekündigt hätte. Wir seien keine Brüder, nie gewesen. Ich war lange Zeit zornig auf ihn und wäre ich ihm in Berlin über den Weg gelaufen, als ich während der letzten Familientreffen dort war - ich wüsste nicht, wie ich reagiert hätte.

Die Liste an Fragen, die ich ihm gerne stellen würde, ist ähnlich lang wie die an A. Doch weiss ich, dass mich die Antworten nicht zufriedenstellen würden. Letztendlich offenbaren Menschen ihren wahren Charakter wohl erst unter extremen Bedingungen. Und so verlor ich die Liebe meines Lebens und einen Freund, der mir wir ein Bruder war, zur selben Zeit. Ein Verlust, den ich bis heute nicht hinreichend verkraften kann. Für dich klingt das vielleicht theatralisch. Für mich gleicht es der Idee vom Sterben. Und kein Tag vergeht, an dem ich mich nicht damit auseinandersetze. 

 
traurig, traurig. Einsichten, die spät kommen (auf alle Fälle besser als nie)

Aber gut formuliert. 

Dramatisch: Meine letzten Worte an ihn waren...

Gäbe Stoff für einen spannenden Roman.

 
Hallo tonton

Freut mich, das zu lesen. Tatsächlich hatte ich lange Zeit den Traum, mal ein Buch zu veröffentlichen. Vielleicht lasse ich mir das mal durch den Kopf gehen. Die besten Geschichten schreibt das Leben immer noch selbst, nicht wahr?

lG

Kuro

 
Hallo tonton

Freut mich, das zu lesen. Tatsächlich hatte ich lange Zeit den Traum, mal ein Buch zu veröffentlichen. Vielleicht lasse ich mir das mal durch den Kopf gehen. 
Hallo Kuro,

herzlich willkommen hier im Forum.

Tatsächlich hast Du wohl, aus meiner Sicht, das Talent, so einen Roman in der Form zu schreiben, zum Veröffentlichen ist es aber sicher noch ein weiter Weg. Dein Stil, was man so liest, ist wirklich gut und macht Lust auf mehr.

Nichtsdestotrotz brauchst Du Abstand zu Deiner eigenen Geschichte, um die nötige Reife für eine solche Erzählung zu erlangen. Sage ich jetzt einmal einfach so. Tatsächlich schreiben wir beide wahrscheinlich an der gleichen Geschichte, und ich kann Dir ehrlich sagen: womöglich bist Du schon weiter als ich, obwohl ich schon mehr Text geschrieben habe, als Du. Wie so oft, bringen Vergleiche aber nicht viel, eher gar nichts.

Wichtig ist erstmal: werde erstmal gesund, wenn das irgendwie geht. Denn darum geht es - werde glücklich, egal, was Dir geschehen ist (sagt sich so leicht, ich weiss). aber es ist nun mal ein aktiver Prozess, von Dir ausgehend.

Zu dem, was Dir passiert ist, kann ich nicht viel sagen: bitter, Verrat und diese einhergehende Enttäuschung über die Menschen, die einem extrem nahe standen, aber wie soll es nun weiter gehen? sie sind weg, aber Dein Leben geht irgendwie weiter, auch wenn Du vor Trauer still stehen musst. Ich kenne das ein wenig, die Depression, den daraus (und aus vielen anderen Faktoren) resultierenden Burnout… woher die Kraft nehmen, sich selbst aufzubauen? und es braucht wirklich viel Kraft, um irgendwann WIRKLICH zu leben, nicht nur so zu tun.

Ich wiederum: nicht wirklich gesund geworden, auch nicht wirklich krank. Doch es gibt Hoffnung, die gibt es immer. Wenn man sie überhaupt sehen will. Manchmal verschliesst man auch einfach die Augen davor. Wahrscheinlich hast Du die grosse Liebe mal gefunden, nicht viele haben dieses Glück im Leben. Aber heisst das wirklich, dass man sie nicht wieder finden kann? Gibt es nur DIE EINE grosse Liebe? oder ist das Illusion? vielleicht gibt es auch die Liebe für alle und jeden, und vor allem für sich SELBST, oder? das denke ich oft in letzter Zeit, dass es die Kunst ist, einfach sich selbst lieben, mit aller Kraft (wieder, woher nehmen?) und dann daraus das positive Denken zu ziehen, so schwer das fällt, der Rest kommt dann von allein… hoffentlich.

Alles Gute!

 
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Hallo Eswareinmal

Danke für das Willkommen und auch für Mitgefühl und Verständnis. Natürlich sollte meine Priorität im Moment der Genesung gelten und nicht dem Schreiben eines Romans. Obgleich das ja auch eine heilende Wirkung haben kann. Jetzt und heute kann ich sagen, dass ich auf dem richtigen Weg zu sein scheine. Zumindest erscheint mir die Welt heute nicht ganz so düster... 

Mit der Selbstliebe ist das so eine Sache. An manchen Tagen ist es sehr leicht, an anderen undenkbar. Manchmal habe ich das Gefühl, mir bleibt gar nichts anderes übrig, als die Stärke in mir selbst zu finden. Durch diese ganze Geschichte ist mein Vertrauen in andere Menschen stark geschädigt, wie du dir sicher denken kannst. Da ist es auch nicht so einfach, Bindungen aufzubauen oder Nähe zuzulassen. Auch wenn man es eigentlich will oder sich wünscht. Wie gesagt, vielleicht bleibt einem in dieser Situation kaum etwas anderes übrig, als auf die eigene Stärke zu vertrauen. Oder einen Weg dorthin zu finden. 

Danke nochmals und auch dir alles Gute auf deinem Weg. 

 
Wie kannst du jemanden vergessen, wenn dir die Person am Tag durch die Gedankengänge spukt und nachts in deinen Träumen erscheint? Der bisherige Rekord lag, glaube ich, bei drei Nächten hintereinander, in denen ich von ihr geträumt habe. Immer wieder tauchen kurze Episoden, Erinnerungsfetzen, hinter meiner Stirn auf. Worte, die gesagt, Dinge die getan oder eben nicht getan wurden. Sie ist jetzt glücklich, sagte sie, als ich sie vor einigen Wochen vorsichtig angeschrieben hatte. Sie studiert, hat ihren neuen Freund, geht auf Reisen, so wie sie es sich gewünscht hatte, als wir noch zusammen waren... 

Mir geht es dafür immer schlechter. Ich lebe in den Tag hinein. Wie ich Arbeit finden soll, weiss ich schon nicht mehr. Ich wüsste nicht, wie ich einem neuen Job in meiner Verfassung gerecht werden könnte. Mit der Therapie geht es auch nicht voran, weil mein Therapeut das erste richtige Gespräch immer wieder hinausschiebt. Entweder hat er die Grippe oder irgendein Fieber oder... Bisher war ich erst einmal bei ihm, zum Erstgespräch, und da hat er meine Medikamente höher dosiert. Das für den Anfang. Aber das allein hilft mir nicht. 

Mir ist klar geworden, dass ich auch den letzten grossen Traum schlussendlich begraben habe. Ich kam ja in die Schweiz, um hier mit A. eine Familie zu gründen. Als die Beziehung in die Brüche ging, sagte ich mir nach einiger Zeit, dass ich diesen Traum weiterverfolgen würde - zusätzlich zu dem Wunsch, irgendwann ein Buch zu veröffentlichen, selbst auf Reisen zu gehen usw. Die Motivation, etwas zu Papier zu bringen, fehlt mir leider schon seit geraumer Zeit. Sie fing etwa zeitgleich mit der Depression an und seither habe ich nichts mehr richtig Grossartiges verfasst. Mein Laptop quillt über vor angefangenen Buchprojekten, die alle in der Konzeptionsphase sind und theoretisch nur darauf warten würden, von mir begonnen zu werden. Aber ich schreibe nicht mehr. Und in der letzten Zeit - ich weiss, ehrlich gesagt, nicht wirklich, wann - habe ich wohl auch den Traum von einer eigenen Familie begraben. Ich weiss, ich bin mit 27 Jahren noch relativ jung, aber ich habe einfach keine Perspektive. Ich habe keine Arbeit, bin ein seelisches Wrack, verschuldet, kriege mein Leben nicht auf die Reihe. Wie sollte ich unter diesen Umständen ein liebevoller Mann, geschweige denn ein fürsorglicher Vater sein können? Das ist für mich schlichtweg undenkbar. 

 
Lieber Kuro

Dein Traum ist zu Ende - dieser Traum. Versuche ihn symbolisch zu begraben und zu verabschieden. Denn wo ein Traum zu Ende geht, kann auch wieder ein Neuer beginnen. Es ist nicht mehr derselbe, es sind nicht mehr dieselben Charakteren darin, aber er kann dennoch ein schöner Traum sein. Du schreibst gerne und hast angefangene Buchprojekte. Das zu Ende führen fehlt Dir gerade, weil Du es gerade nicht kannst. Dein Kopf ist noch zu sehr beschäftigt mit Trauern. Ja Trauern -  um Sie, um den Traum, um euch, um Dich.

Vielleicht aber hilft Dir gerade etwas, was Du schon mal tun wolltest: Reisen. Neue Länder, neue Menschen - andere Kulturen. Auf Reisen kann man viel entdecken - nicht nur die Natur. Vielfach auch sich selbst. Es wäre ein guter Ansatz. Nimm Notizblock und Stift mit und lass Dich überraschen. 

Ich finde, Du schreibst gut. Es wäre schade, wenn Du den Weg zu Dir zurück nicht mehr findest.

Alles Liebe

Minusch

 
Mir geht es dafür immer schlechter. Ich lebe in den Tag hinein. Wie ich Arbeit finden soll, weiss ich schon nicht mehr. Ich wüsste nicht, wie ich einem neuen Job in meiner Verfassung gerecht werden könnte.
Ein Schritt nach dem anderen; erst die Verfassung verbessern, dann auf Jobsuche gehen. Die kann sich nämlich vollkommen enttäuschend gestalten, wenn man nicht der "Norm" des Arbeitsmarkts entspricht, heisst: voll auf Leistung getrimmt, ehrgeizig und für den Job "lebend". Wenn man sich darauf einlässt, wieder in die Gesellschaft "einzusteigen", sind einige Rückschläge bei der Jobsuche zu erwarten - die vielen Absagen und die damit einhergehende Frustration muss man erstmal ertragen können. Die Absagen können also die Laune und Verfassung ganz schön runterziehen. Darauf musst Du gefasst sein und hierbei einen langen Atem beweisen, wenn Du wieder diesen Weg einschlagen willst.

Sei froh, dass Du jetzt noch die Zeit und den Freiraum hast, Dich davon fernzuhalten. Klar, es ist schwierig, das zu geniessen, wenn es einem so schlecht geht, aber denk einfach daran, dass Deine Situation auch die eine oder andere gute Seite hat. Zeit, sich wieder zu finden, Zeit darüber hinweg zu kommen. Zeit, auch um Zeit einfach mal zu verschwenden. Ohne sich deswegen Schuldgefühle machen zu müssen.

Einen Schritt nachdem anderen. Wenn es Dir wieder besser gehen sollte, wird auch wieder die Energie kommen, die einzelnen Stücke Deiner literarischen Sammlung zusammen zu setzen. Das Rohmaterial zu bearbeiten und wieder das Ganze, das eigentliche Ziel im Hintergrund aller Deiner Gedanken zu sehen. Aber erst versuchen, dass es Dir wieder besser geht. Langsam, schwierig, manchmal hatte ich eine Zeitlang das Gefühl, das es immer nur einen Schritt vorwärts geht und dann wieder zwei zurück. Aber auch das macht Dich stärker.

Klar, das erste Gespräch mit dem Therapeuten (der sich unverständlciherweise rar macht) ist sicher wichtig. Aber dann kommt irgendwann die 10. Sitzung , die 20., die 30. , man reibt sich auf , sieht keinen Ausweg, die Niedergeschlagenheit, als ich bei der 50. Sitzung einsehen musste, dass man die Therapie um 30 Stunden verlängern muss. Aber irgendwann sieht man den Fortschritt, fühlt seine eigene Genesung. Es ist möglich, mit viel Einsatz (der Kraft kostet) und Einsicht (die Schmerzen verursacht). Der Einsatz für sich selbst ist dabei sehr hilfreich. Und lohnenswert. Gib nicht auf, um Dich zu kämpfen, ok?

 
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