Man kann Geschmack haben, oder man kann eine Weltanschauung haben. Eins davon muss man haben.
Beides kann man nicht haben. Man hat die Wahl.
Dass sich über den Geschmack nicht streiten lässt, ist bekannt; dass sich über die Weltanschauung nicht streiten lässt, ist weniger bekannt, aber ebenso wahr.
Geschmack oder Weltanschauung hat man, wie man eine Schuhnummer hat, eine Haarfarbe oder einen Körpergeruch.
Wer sie angreift, ist ein Feind; kein Gesprächspartner.
Die Weltanschauung rechtfertigt jede Geschmacklosigkeit; deswegen kann der Geschmackvolle keine haben. Der Geschmack rechtfertigt jede Prinziplosigkeit; deswegen kann der Prinzipienmensch keinen gebrauchen. Ob man lieber Geschmack haben soll oder eine Weltanschauung, ist eine Geschmacksfrage, oder eine Weltanschauungsfrage.
Leute von Weltanschauung finden Leute von Geschmack charakterlos. Ein Mensch von Geschmack hat Meinungen, aber keine Überzeugungen. Wo ihm eine Überzeugung als Überzeugung entgegentritt, tritt er ihr entgegen, denn Überzeugungen schmecken schlecht, die meisten riechen sogar schlecht. Jede Überzeugung ist unbescheiden, dickfällig, verbohrt, rechthaberisch, humorlos, dumm. Jede Überzeugung ist solange gut, als sie das alles nicht ist, aber so lange ist sie keine Überzeugung. Jede Weltanschauung ist dem Geschmackvollen erlaubt als geistiges Spiel: Selbstverständlich ist der Geschmackvolle konservativ, denn was die Menschen tausend Jahre lang gut gefunden haben, da wird schon etwas dran sein, selbstverständlich ist der Geschmackvolle liberal, denn man kann nicht alles über einen Kamm scheren.
aus Sebastian Haffner,
Das Leben der Fußgänger
Moby :trost:
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