Die Vermisstenanzeige
Ich hatte mir den Nachmittag freigenommen um die Vermisstenanzeige aufzugeben. Irgendwie war mir das Wort während des Lesens eines Buches untergekommen und seine Logik erschloss sich mir beinahe sofort. Es enthielt ein Gefühl das ich empfand: ich vermisste sie. So einfach war das.
Ich stieg aus dem Tram und ging auf das Gebäude der Kantonspolizei zu. Der alte, schmiedeeiserne Zaun und die denkmalgeschütze Fassade liessen kaum vermuten, was sich dahinter befand.
Es war ein grauer Tag und ich stieg fröstelnd die steinernen Stufen hinauf um auf den Knopf neben dem Schild "Kantonspolizei Zürich" zu drücken. Ein Summen zeigte mir an, dass ich die Tür öffnen konnte und ich betrat einen Vorraum, der in fahles Neonlicht getaucht war. Hinter einer gepanzerten Glasscheibe sass ein Polizist und blickte auf, als ich vor ihm stand.
"Grüezi." sagte er knapp.
"Grüezi." antwortetet ich. "Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben."
"Ihre Papiere bitte." kam als kurze Anweisung zurück.
Ich legte meinen Pass in die Schublade, die er zu sich hinter die Glasscheibe zog. Er nahm ihn, füllte an seinem Computer ein Formular aus und schob ihn mir wieder zu.
"Wachtmeister Stucki - dritte Tür links".
Ein weiterer Summton erklang, ich drückte auf die Klinke der Tür, die ins Innere des Gebäudes führte und blickte den dahinter liegenden Gang entlang. Ich klopfte an die beschriebene Tür, wartete auf ein kurzes, aber deutliches "Herein!" und betrat den nüchtern eingerichteten Raum.
"Einen kleinen Moment noch." sagte der Mann, der in Zivilkleidung hinter einem Bildschirm sass und ich trat etwas näher.
"Setzen Sie sich.", wies er mich an ohne aufzublicken. Ich nahm auf einem alten, abgewetzten Holzstuhl platz, blickte mich um und wartete.
"Sie möchten also eine Vemisstenanzeige aufgeben?"
"Ja. Deshalb bin ich hier" antwortete ich.
"Um wen handelt es sich?", fragte Stucki weiterhin ohne mich anzusehen.
Ich nannte ihm Name und Adresse der vermissten Person, welche er auf seiner Tastatur eingab.
"Seit wann vermissen Sie sie?"
"Seit 23. September diesen Jahres"
Stuckis Hände hielten innne und er sah mich das erste Mal an.
"Warum kommen Sie erst jetzt zu uns? Die meisten Anzeigen gehen innerhalb von 12 Stunden bei uns ein. Ist Ihnen klar, dass das fast zwei Monate sind?"
"Ja." sagte ich mit leiser Stimme. "Ich dachte auch, ich hätte sie wiedergefunden. Bis ich bemerkte, dass es nicht dieselbe Person ist."
Stucki musterte mich aufmerksam. So etwas war ihm wohl noch nicht untergekommen.
"Versuchen Sie doch einmal, die Vermisste zu beschreiben und dann die, die sie glauben wiedergefunden zu haben."
Sein Interesse schien echt und so versuchte ich, sie zu beschreiben. Es war das erste mal, dass ich das tat und es war schwieriger als ich dachte, denn sie war ein flirrendes Wesen, schwer zu greifen und zu begreifen und noch komplizierter schien es mir, all das in Worte zu fassen. So versuchte ich mich an einen Menschen zu erinnern, der beinahe unmerklich in mein Leben getreten war und dort innerhalb kürzester Zeit einen Platz eingenommen hatte, der bis dato unbesetzbar schien: als beste Freundin und Vertraute, als Mensch mit dem man Lachen und Weinen konnte ohne sich Gedanken machen zu müssen, ob es in ihrer Anwesenheit erlaubt war oder peinlich, jemand an den man sich anlehnen konnte und die sich an einen lehnte, je nachdem, wen eine Sorge plagte. Jemand, dem man bis spät Nachts Nachrichten schreiben konnte ohne das Gefühl zu haben lästig zu sein. Und jemand, für den man gern da war.
Wir kannten uns noch nicht lange - seit nicht einmal zwei Jahren. Seit Januar trafen wir uns öfter und unternahmen viel zusammen. Es entstand eine enge Freundschaft und bald ein so tiefes Vertrauen, dass es uns sogar das strapazierte Wort "Seelenverwandschaft" als Beschreibung abverlangte.
Sie war ein ungemein warmherziger Mensch und ich fühlte mich in ihrer Gegenwart so wohl, wie ich es eigentlich nicht mehr zulassen wollte, da ich schon zu viele Menschen verloren hatte, die mir nahe gekommen waren. Unsere Unternehmungen wurden mehr und wir sprachen über alles und jedes, lachten viel und waren bald unzertrennbar. Ihre Feinfühligkeit, Eloquenz und ihre sensible Art und Weise mit mir umzugehen in Kombination mit ihrem schwarzen Humor und weitreichenden Interessen liessen mich meine Mauer einreissen und so kam sie mir näher, als ich es wollte. Wir tauschten täglich Nachrichten aus und ich freute mich über jeden Satz. Als ich im Sommer einmal verreisen musste, erhielt ich Abends eine SMS, die ich noch heute manchmal lese, weil sie für das steht, was uns so verband: "Ich sitze allein hier auf einem Steg und Du fehlst mir." Gefolgt von einem Smiley mit Herz und Kuss.
"Ich liebte sie ohne verliebt zu sein, verstehen Sie?". Ohne es zu bemerken, hatte ich angefangen Stucki, einem völlig fremden, zu erzählen, was ich empfand. "Und ich glaube, dass es ihr genauso ging. Wir sprachen dieses Thema an und kamen überein, dass es ein überaus starkes Gefühl war, es jedoch für eine Beziehung weder ausreichte, noch dass sie eine wollte. Es ist schwer eine solch starke Zuneigung von Liebe oder Verliebtsein zu unterscheiden."
Mein Redefluss geriet ins stocken, denn es war sogar schwierig in Gedanken zu erfassen, was uns aneinander band. Noch komplizierter war es, all das mit Worten auszudrücken.
"Diese tiefe Zuneigung brach sich eines Tages Bahn. Wir küssten uns und eines führte zum anderen. Ich glaube, dass diese Liebe, die keine Verliebtheit war und auch nicht das, was man als Liebespaar füreinander empfindet, den Wunsch erweckte, sich auch körperlich nahe zu sein. Eine Sehnsucht, die nur dadurch gestillt werden konnte. Es war sehr leidenschaftlich und schön. Doch ich machte einen Fehler. Ich wies sie zurück, weil ich glaubte, dass sie sich in mich verliebt hatte. Ich wollte all das nicht zerstören und verletzte sie genau dadurch so sehr, wie ich es niemals wollte."
"Sie wissen, dass Sie sich - falls hier wirklich jemand vermisst wird - durch eine solche Aussage selbst belasten können? Es hört sich nach einem Konflikt an, der wohl in einem Streit endete ..."
Ich hörte ihn, doch seine Worte drangen nicht zu mir hindurch. Und es war mir auch egal, denn je länger ich erzählte, desto mehr wurde mir bewusst, was ich getan hatte.
"Sie erwähnten Anfangs, dass Sie glaubten, die Person wiedergefunden zu haben und diese sich dann als eine andere herausstellte. Können Sie mir das näher erläutern? Ich verstehe es nicht ganz."
"Nach diesem Vorfall zog sie sich zurück, um sich selbst zu schützen, was ich verstand. Wir hatten dann länger keinen Kontakt mehr bis eine Diskussion per SMS über das Geschehene eskalierte. Irgendwann fingen wir wieder an uns zu schreiben und sahen uns ein oder zweimal. Doch es war nicht mehr das Selbe. Die Vertrautheit war verschwunden und anstatt zu reden und uns so blind zu verstehen wie zu Beginn unserer Freundschaft, gab jedesmal ein Wort das andere und wir gingen das letzte Mal auseinander ohne uns wiedergefunden zu haben. Wir schrieben uns noch ein paar Mal und kamen überein, die Freundschaft wieder wie am Anfang fortzuführen, doch ihre Worte waren bar jeder Zuneigung und Wärme. Sie wirkte mit jedem Mal kälter und abweisender bis es für mich verletzend wurde.
Sie war nicht mehr die Selbe. Sie war mir fremd geworden und ich konnte nicht glauben, dass der Mensch verschwunden war, der mir so viel bedeutet hatte."
"Hören Sie …" Stucki lehnte sich nach Vorne, legte die gefalteten Hände auf den abgewetzten Schreibtisch und fuhr nach einer Pause fort: "Ich sehe das so: es gibt mehrere Möglichkeiten. Doch keine weisst darauf hin, dass hier jemand verschwunden ist. Zum einen könnte es sein, dass sie sich eine Maske aufgesetzt hat um sich selbst zu schützen. Vor Gefühlen, die sich nicht einfach abstellen lassen. Vielleicht hat sie Angst, dass Sie beide sich wieder zu nahe kommen, ohne es zu wollen und will auch Sie davor bewahren. Sie sind beide erwachsen und wissen, dass sie sich nicht so lieben, wie ein Paar. Und doch reicht es aus einander zu verletzen, wenn man nicht achtgibt.
Vielleicht kann sie diese Maske nun nicht mehr absetzen und will es unter Umständen auch gar nicht. Vielleicht hat sie aber auch gar keine Angst davor, die Freundschaft fortzusetzen, findet aber - genau wie Sie auch - keinen praktikablen Weg dorthin zurück.
Glauben Sie mir - es ist noch ein und die gleiche Person. Aber ob Sie sie jemals so wiederfinden, wie Sie sie kennengelernt haben, kann ich Ihnen nicht sagen. Das kann nur sie selbst.
Ich gebe Ihnen das Protokoll mit. Sie können es behalten. Sehen Sie in einer ruhigen Minute hinein und lesen Sie, was Sie mir beschrieben haben. Es ist eine schöne Geschichte über etwas sehr besonderes. Eine solche Verbindung verschwindet nicht von heute auf morgen. Versuchen Sie einen Weg zurück zu finden. Viel Glück."
Bei seinen letzten Worten öffnete er mir die Tür und liess mich hinaus. Ich stand auf dem Gang, hielt die Akte in der Hand, drehte mich um und ging in Richtung Ausgang. Der Türöffner summte und ich trat in die Kälte. Über meinen Erzählungen war es dunkel geworden. Ich zog mir den Schal enger um den Hals und sah in den Himmel. Es begann gerade zu schneien. Mit geöffnetem Mund liess ich eine Flocke auf meiner Zunge landen. Es war plötzlich Winter.
Quelle: ich und meine Geschichte.
Ich danke Euch fürs Lesen ...