Was ist Liebe?
Es ist ein Jammer, dass wir diese Frage stellen müssen. Würden die Dinge ihren natürlichen Lauf nehmen, wüssten alle, was Liebe ist. Doch tatsächlich weiß es niemand, oder es kommt ganz selten vor, dass ein Mensch erfährt, was Liebe wirklich ist. Liebe ist einer der seltensten Seinszustände geworden. Ja, es wird viel über die Liebe gesprochen, Filme handeln davon, in Büchern wird sie beschrieben, in Liedern besungen, im Fernsehen sieht man sie, im Radio, in Zeitschriften ... es existiert eine riesige Industrie, die uns mit Vorstellungen beliefert, was Liebe ist. Und viele Menschen sind in der Industrie beschäftigt, die den Menschen hilft zu verstehen, was Liebe ist. Und dennoch bleibt die Liebe eine unbekannte Erscheinung. Dabei sollte sie eigentlich zu den Dingen gehören, die man am besten kennt.
Es ist beinahe so, als würde jemand fragen: »Was ist Essen?« Würdest du dich nicht wundern, wenn jemand käme und dir diese Frage stellte? Nur wenn jemand von Anfang an hätte hungern müssen und noch nie Essen gekostet hätte, wäre diese Frage sinnvoll. Genauso ist es mit der Frage: »Was ist Liebe?«
Liebe ist die Nahrung der Seele, doch ihr seid ausgehungert. Eure Seele hat noch gar keine Liebe empfangen, deshalb kennt ihr ihren Geschmack nicht. Daher ist die Frage berechtigt, aber es ist ein Jammer, dass sie gestellt wird. Der Körper hat Nahrung erhalten, deshalb lebt er weiter, doch die Seele hat keine Nahrung erhalten, deshalb ist sie tot oder noch gar nicht geboren, oder sie liegt immer auf dem Sterbebett.
Wenn wir geboren werden, sind wir voll ausgerüstet mit der Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden. Jedes Kind ist bei der Geburt voller Liebe und weiß ganz genau, was Liebe ist. Einem Kind braucht man nicht zu sagen, was Liebe ist. Doch das Problem entsteht dadurch, dass Mutter und Vater nicht wissen, was Liebe ist. Kein Kind hat die Eltern, die es verdient - kein Kind hat jemals die Eltern bekommen, die es verdient; solche Eltern gibt es einfach nicht auf der Erde. Und wenn dieses Kind dann selbst Kinder bekommt, hat es die Fähigkeit zu lieben auch verloren.
Ich habe von einem kleinen Tal gehört, wo die Kinder drei Monate nach der Geburt alle erblindeten. Es war ein kleiner primitiver Stamm, und es gab dort eine Fliege, die eine Infektion hervorrief, welche zur Erblindung führte. Deshalb war der ganze Stamm blind. Jedes Kind wurde mit Augen geboren, die völlig in Ordnung waren, aber nach höchstens drei Monaten waren sie wegen dieser Fliegen alle blind. Nun müssen diese Kinder irgendwann später gefragt haben: »Was sind eigentlich Augen? Was meint ihr, wenn ihr >Auge< sagt? Was ist Sicht? Was ist Sehen? Was meint ihr denn?« Das wäre eine berechtigte Frage gewesen. Diese Kinder waren mit dem Augenlicht geboren worden, aber hatten es irgendwann, als sie größer wurden, verloren.
Dasselbe ist mit der Liebe geschehen. Jedes Kind wird mit so viel Liebe geboren, wie man aufnehmen kann, ja sogar mit mehr Liebe, als man aufnehmen kann, mit überfließender Liebe. Ein Kind wird aus Liebe geboren, ein Kind ist aus dem Stoff gemacht, der Liebe heißt. Doch die Eltern können keine Liebe geben. Sie leiden selbst an den Folgeerscheinungen - sie sind von ihren Eltern nie geliebt worden. Die Eltern können nur so tun als ob. Sie können über Liebe reden. Sie können sagen: »Wir lieben dich sehr.« Aber was sie tun, ist nicht wirklich liebevoll. Wie sie sich dem Kind gegenüber verhalten, wie sie das Kind behandeln, ist respektlos. Eltern respektieren Kinder niemals. Wer denkt schon daran, ein Kind zu respektieren? Ein Kind wird oft gar nicht als Person betrachtet, sondern als Problem. Wenn es still ist, ist es gut. Wenn es nicht schreit und keinen Unsinn macht - gut. Wenn es den Eltern nicht im Weg ist - sehr gut! So sollte ein Kind sein. Aber es gibt keinen Respekt; es gibt keine Liebe.
Die Eltern haben nie erfahren, was Liebe ist. Die Frau hat den Mann nicht geliebt; der Mann hat die Frau nicht geliebt. Zwischen ihnen besteht keine Liebe - stattdessen wollen sie einander beherrschen, besitzen und sind eifersüchtig - alles Gifte, welche die Liebe zerstören. So wie ein bestimmtes Gift das Augenlicht zerstören kann, wird die Liebe dadurch zerstört, dass man den anderen eifersüchtig als Besitz betrachtet.
Liebe ist eine zarte Blume. Sie muss beschützt und gepflegt werden; sie muss gegossen werden; nur dann wird sie stark. Und die Liebe eines Kindes ist sehr zerbrechlich - natürlich, denn das Kind ist zart; sein Körper ist empfindlich. Glaubt ihr, ein Kind, das man allein lässt, könnte überleben? Stellt euch vor, wie hilflos das menschliche Baby ist! Überlässt man ein Kind sich selbst, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass es überlebt. Es wird sterben, und genau dasselbe geschieht mit der Liebe. Die Liebe wird sich selbst überlassen; sie wird nicht
gepflegt.
Die Eltern sind unfähig zu lieben, wissen nicht, was Liebe ist, haben den Fluss der Liebe nicht erlebt. Denkt an eure eigenen Eltern. Wohlgemerkt: Ich sage nicht, dass sie dafür verantwortlich sind. Sie sind ebenso Opfer, wie ihr Opfer seid. Ihre eigenen Eltern waren genauso. Und so weiter ... Man kann bis zu Adam und Eva und zu Gott, dem Vater, zurückgehen. Selbst Gott war als Vater nicht sehr respektvoll gegenüber Adam und Eva. Von Anfang an hat er sie herumkommandiert: »Tut dies!« und »Tut das nicht!« Er hat bereits denselben Mist verzapft wie alle Eltern: »Ihr dürft nicht die Früchte vom Baum der Erkenntnis essen!« Und als Adam die Frucht gegessen hatte, reagierte Gottvater mit solch einer Wut, dass er Adam und Eva aus dem Himmel warf.
Diese Vertreibung aus dem Paradies ist immer noch da: Alle Eltern drohen ihren Kindern, sie zu vertreiben, sie hinauszuwerfen: »Wenn du nicht hörst; wenn du dich nicht benimmst, wirst du rausgeworfen!« Natürlich bekommt das Kind Angst. Rausgeworfen? In die Wildnis dieses Lebens? Es beginnt Kompromisse zu machen. Im Laufe der Zeit wird das Kind verdreht und beginnt zu manipulieren. Es will nicht lächeln, aber wenn die Mutter in der Nähe ist und es Milch will, lächelt es. Das ist bereits Politik - der Anfang, das ABC der Politik.
Tief in seinem Inneren beginnt das Kind die Eltern zu hassen, weil es nicht respektiert wird; innerlich beginnt es, sich frustriert zu fühlen, weil es nicht so geliebt wird, wie es ist. Es wird von ihm ein bestimmtes Verhalten erwartet; nur dann wird es geliebt. Liebe hat Bedingungen - es ist nicht liebenswert, so wie es ist. Es muss die Liebe verdienen, erst dann wird sie ihm von den Eltern gegeben. Um es »wert« zu sein, geliebt zu werden, wird das Kind falsch. Es verliert das Gefühl für seinen eigenen inneren Wert. Sein Selbstrespekt geht verloren, und allmählich bekommt es Schuldgefühle.
Viele Kinder überlegen sich: »Sind das wirklich meine Eltern? Haben die mich vielleicht nur adoptiert? Vielleicht beschwindeln sie mich, weil sie mich eigentlich gar nicht lieben.« Unzählige Male sieht das Kind Wut in ihren Augen, die scheußliche Wut im Gesicht der Eltern, und das wegen solcher Kleinigkeiten, dass es nicht verstehen kann, wie so kleine Dinge eine so große Wut hervorrufen können. Es sieht, wie die Eltern wegen jeder Kleinigkeit in Rage geraten. Es kann es kaum glauben - es ist so ungerecht und gemein! Aber es muss nachgeben; es muss sich beugen und es als notwendiges Übel akzeptieren. Im Laufe der Zeit wird seine Fähigkeit zu lieben abgetötet.
Liebe wächst nur mit Liebe. Liebe braucht eine liebevolle Atmosphäre - das ist die wichtigste Grundlage, an die man sich erinnern sollte. Nur in einem Milieu der Liebe kann Liebe wachsen; sie braucht die gleiche Art von Schwingung in ihrer Umgebung. Wenn die Mutter liebevoll ist, wenn der Vater liebevoll ist, nicht nur zu dem Kind, sondern wenn sie auch miteinander liebevoll umgehen, wenn im Haus eine Atmosphäre ist, wo Liebe fließt, dann wird das Kind ein liebevolles Wesen entwickeln. Und es wird niemals fragen: »Was ist Liebe?«...